Der Erzbischof von Manaus im Interview über Brasilien, Adveniat und die Pandemie

Erzbischof Steiner: „Unsere Eliten sind nicht solidarisch oder demokratisch“

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Wie lebt es sich in einem Land, das von ständigem Kampf um Landbesitz zerrüttet wird? Wie wirkt man als Missionar, wenn nur einmal im Jahr Gottesdienst gefeiert wird? Über den brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro, die Pandemie und, warum ein Hilfswerk wie Adveniat wichtige Arbeit leistet, spricht Erzbischof Leonardo Ulrich Steiner aus Manaus in Brasilien mit "Kirche-und-Leben.de". Steiner ist zur Eröffnung der bundesweiten Weihnachtsaktion von Adveniat zu Gast, die am Sonntag im Bistum Münster stattfindet.

Die Adveniat-Aktion steht unter dem Leitwort „ÜberLeben in der Stadt“. Wem gehört das Land, wenn 80 Prozent der Bevölkerung in der Stadt lebt?

Adveniat hat damit ein sehr wichtiges Thema für Lateinamerika und Brasilien benannt. In meinem Bundesstaat Amazonien leben vier Millionen Menschen, die Hälfte davon in der Bundeshauptstadt Manaus. Immer mehr Arme streben in die Stadt und besetzen Gebietsteile an der Peripherie von Manaus. Die Kirche unterstützt sie dabei, ein Recht auf diese Landstücke zu erwirken. Bei den Landbesetzungen wird aber auch häufig die Natur zerstört. Deswegen helfen wir ihnen dabei, Land zu finden, wo nicht erneut die Umwelt kaputt gemacht wird.

In Brasilien gehört das meiste Land den Großgrundbesitzern. Wie steht die katholische Kirche zu ihnen?

Es ist immer schwierig zu sagen: die katholische Kirche. Weil die Großgrundbesitzer auch katholisch sind. Die Besitzer riesengroßer Ländereien versuchen auch jetzt noch, neues Land im Amazonasgebiet zu besetzen. Seit Jahren setzt sich die Amtskirche deswegen für umfassende Agrarreformen ein. Unser Ziel ist es, die Regierung dazu zu bewegen, das Land, das die Großgrundbesitzer nicht nutzen und kultivieren, an die Armen zu geben. Sie sollen es bebauen und dort leben können.

Der Adveniat-Eröffnungsgottesdienst wird am 28. November um 10 Uhr im Dom in Münster gefeiert. "Kirche-und-Leben.de" überträgt live.

Sie sind in eine deutschstämmige Familie hineingeboren - als 13. von 16. Kindern. Ihre Eltern lebten im Süden Brasiliens, im prosperierenden Bundesstaat Santa Catarina. Vor eineinhalb Jahren sind Sie mit 70 Jahren als Bischof in das ungleich ärmere Erzbistum Manaus gegangen. Was hat Sie bewegt?

Ich hatte als Kind einen Traum: Ich wollte Missionar in Afrika werden. Das hat nie geklappt. Als ich 2005 im Bundesstaat Mato Grosso zum Bischof berufen wurde, habe ich gemerkt, dass ich dort eine Möglichkeit habe, als Missionar zu arbeiten. Deswegen habe ich das Amt überhaupt angenommen. In Mato Grosso hatte ich viele Kontakte zu verschiedenen indigenen Gruppen und konnte mit ihnen arbeiten. Dort konnte ich mich als Missionar fühlen. Als dann meine Zeit als Generalsekretär der Brasilianischen Bischofskonferenz zu Ende ging, habe ich den Heiligen Vater gefragt, ob ich nach Amazonien gehen kann.

Missionar sein können Sie doch überall. Was macht den Unterschied?

Wenn man, wie in Amazonien, 1000 Gemeinden hat und die Menschen dort nur einmal im Jahr Gottesdienst feiern, musst du wirklich da sein, bei den Menschen sein. Missionar sein bedeutet ja nicht mehr, jemanden zu bekehren. Missionieren bedeutet, als Kirche bei den Menschen und insbesondere bei den Armen zu sein.

Haben Sie 2019 an der Amazonassynode in Rom teilgenommen?

Nein, aber als Sekretär der Brasilianischen Bischofskonferenz war ich an den Vorbereitungen der Synode beteiligt.

Wie werden die Ergebnisse der Synode jetzt in Amazonien umgesetzt?

Wir versuchen, den Gemeinden neu zuzuhören und bringen den Synode-Text zu den Menschen. Wir wünschen uns, dass die Gemeinden uns sagen, welche Wege und Straßen unsere Kirche jetzt nehmen soll. Die Gemeinden können uns zeigen, wie die Kirche besser werden kann. Auch in Bezug auf die Dienste von Laien, Priestern und Ordensleuten. Das betrifft insbesondere die indigenen Gruppen. Papst Franziskus spricht davon, dass die Spiritualität interkulturiert sein soll. Es geht nicht darum, das Evangelium aufzuzwingen, sondern es den Menschen vorzuschlagen, sodass sie es in ihre jeweilige Kultur aufnehmen können. Bei den verschiedenen indigenen Gruppen und Sprachen ist das eine große Herausforderung.

Hat die Amazonassynode zur Stärkung der Laien in den Gemeinden geführt?

Die Gemeinden werden fast alle von Frauen geführt. Besonders die im Landesinneren und in entfernteren Bereichen. Es geht jetzt darum, wie die Frauen als Leiterinnen der Gemeinden gestärkt werden können, zum Beispiel in der Katechese und bei den Wortgottesdiensten. Wir bereiten dazu gerade eine Synode-Versammlung vor, bei der die Frauen ihre Vorschläge machen.

Was sind die Hauptprobleme in Manaus-Stadt?

Armut, Arbeitslosigkeit und die Kriminalität der Drogenbanden. Zudem haben wir viele Flüchtlinge aus Venezuela und eine organisierte Migration aus Haiti. Durch die Pandemie ist die Zahl der Obdachlosen gestiegen. Es gibt jetzt Hunger in Manaus. Das war vorher nicht. Wir versuchen, die Menschen mit Essen und Lebensmitteln zu versorgen. Bisher haben wir das geschafft. Während der Pandemie sind allein im Bundesland Amazonas 14.000 Menschen gestorben. In Manaus-Stadt hatten wir an einem Tag 182 Begräbnisse. Schon die erste Corona-Welle war schwierig, weil wir nicht wussten, was das Virus bedeutet. Aber in der zweiten Welle wussten wir es, und es war kein Sauerstoff da. Deswegen und weil in den Krankenhäusern kein Platz war, sind viele gestorben. Das war dramatisch. Nur in der Stadt gibt es Intensivstationen. Der brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro, der die Pandemie kleingeredet hat, stützt seine Macht auf evangelikale Eliten.

Wie ist das Verhältnis der Bischöfe zum Staatspräsidenten und zu den Evangelikalen?

In der Bischofskonferenz wird immer wieder klar, dass vieles, was Bolsonaro macht, nicht akzeptabel ist. Zum Beispiel seine Politik gegenüber den Indigenen und Armen. Es gibt aber auch Katholiken, die ihn stützen. Und in den evangelikalen Kirchen sind längst nicht alle Leute mit seiner Politik einverstanden. Große Sorgen macht mir vor allem die Destabilisierung und der Abbau der zivil-demokratischen Institutionen, die sich für Indigene und für Ökologie einsetzen. Er ist ein Mann, der spaltet und enorme Spannungen erzeugt, statt in der Krise die Solidarität in der Bevölkerung zu stärken.

Auch in Brasilien leben reiche Menschen. Warum unterstützen sie nicht die Armen und Indigenen im Land? Warum braucht es die Hilfe von Adveniat und der vielen Deutschen, die für Adveniat spenden?

Unsere gesellschaftlichen und politischen Eliten sind nicht solidarisch und sie sind auch nicht demokratisch. Die Armen zählen für diese Leute nicht. Es gibt aber manche Reiche, die tief kirchlich sind, und gerade in der Pandemie geholfen haben. Vielleicht fehlt von unserer Seite auch, mit den reichen Eliten ins Gespräch zu kommen. Und ihnen zu zeigen, wie wichtig es ist, etwas für die Anderen zu tun. Als Mensch kann man nicht reif werden, wenn man nicht auch an den Nächsten denkt.

Was bewirken die Adveniat-Spenden?

Adveniat engagiert sich seit 60 Jahren und hat vielen Gemeinden und Kirchen in ganz Lateinamerika geholfen. Das ist nicht nur Geld. Das ist Solidarität, Caritas und Liebe. Ohne Adveniat wären wir als Kirche nicht in der Lage, bei den Armen und in der Landpastoral zu sein. Zudem unterstützt Adveniat seit Jahrzehnten die Fachstelle für Indigenen-Fragen „Cini“. Wir konnten dadurch vielen Familien helfen, dass sie ihr eigenes Land bekommen und jetzt auf eigenen Beinen stehen. In der Pandemie haben wir durch Adveniat mehr als 10.000 Menschen mit Grundnahrungsmitteln und Gesundheitsvorsorge unterstützt. Adveniat hilft unseren Ordensschwestern bei ihrer Arbeit mit den Migranten und bei der Ausbildung von Frauen.

Sie haben als junger Franziskaner und Promotionsstudent mehrere Ferienvertretung im Bistum Münster gemacht, insbesondere im Offizialat Vechta. Ist Ihr Besuch jetzt ein kleines Wiedersehen?

Ja, ich war erst in Rechterfeld und dann in Visbek. Ich kam von Rom und habe dort die Urlaubsvertretung gemacht. Das war etwa 1996 bis 2002. Damals war ja noch Reinhard Lettmann der Bischof von Münster.

Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?

Zuhause haben wir nur Deutsch gesprochen. In der Schule haben wir dann Portugiesisch gelernt. Mein Vater sagte immer: "Es ist gut, wenn ihr zwei Sprachen könnt." Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, dort sprachen alle Deutsch. Der Gottesdienst war damals auf Latein, aber die Lieder und Gebete auf Deutsch.

Adveniat-Programm:
Ein umfangreises, coronakonformes Programm begleitet die Adveniat-Eröffnungsaktion bis in den Dezember hinein. Von Adventsmarkt bis Lichtprojektion - eine Übersicht finden Sie auf der Internetseite des Hilfswerks.

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